Cover
Titel
Weltwärts. Die globalen Spuren der Zürcher Kaufleute Kitt


Autor(en)
Boesch, Ina
Erschienen
Baden 2020: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
271
Preis
CHF 39.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Riccardo E. Rossi, Historisches Seminar, Universität Zürich

Seit den 1990er-Jahren finden globalgeschichtliche und postkoloniale Perspektiven vermehrt Eingang in nationalgeschichtliche Untersuchungen und beginnen seit einigen Jahren auch bei Büchern für eine breitere Leserschaft eine zunehmend größere Rolle zu spielen.1 In Weltwärts präsentiert Ina Boesch nun den Versuch, Fragen nach interkontinentalen Warenströmen und „kolonialen Machenschaften“ (S. 7) für ihre Familiengeschichte fruchtbar zu machen und so einen Beitrag zur aktuellen Debatte über „die globale und koloniale Vergangenheit der Schweiz“(S. 8) zu leisten.2 Eingefasst von einem programmatischen Vor- sowie Nachwort, führt die Autorin durch die Biografien mehrerer Männer und einer Frau der Familie Kitt, die sie in zwei kleinere und zwei größere Kapitel gliedert: zum Handel (Kapitel 1) und Konsum (Kapitel 2) extra-europäischer Güter im Zürich des 16. und 17. Jahrhunderts sowie zu Zürcher Kaufmännern im atlantischen Raum im späten 18. Jahrhundert (Kapitel 3) respektive in Ägypten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Kapitel 4). Im Spagat zwischen populärwissenschaftlichem Buch und quellengestützter Analyse bringt Boesch immer wieder Reportagen eigener Reisen und Archivbesuche in ihre Ausführungen ein und spricht ihre Vorfahren oft mit „Du“ an, wenn sie deren Sinneswahrnehmungen und Einschätzungen zu rekonstruieren versucht. Das verwendete Quellenmaterial umspannt diverse Gattungen und liegt in zahlreichen privaten und öffentlichen Archiven in Ägypten, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und der USA. Neben Korrespondenzen, Manuskripten, Reiseberichten, Gerichtsakten und Geschäftsunterlagen werden auch Gemälde, Karten, Fotografien, archäologische Funde und nicht zuletzt Boeschs eigene Reiseerfahrungen berücksichtigt. Verweise auf Forschungsliteratur und geschichtswissenschaftliche Debatten fehlen hingegen weitgehend.

Das erste und kürzeste Kapitel beschäftigt sich mit den Anfängen der Familie Kitt in Zürich und streicht die Bedeutung heraus, die der Handel mit Gewürzen und Textilien beim sozialen und ökonomischen Aufstieg der Familie spielte. Ausgehend von Prozessakten aus dem Staatsarchiv Zürich und einer Familienchronik von 1722 wird Hans Sebastian Kitt (gest. 1564) eingeführt, der 1535 Bürger der Stadt Zürich wurde und als Anfangspunkt der Familiengeschichte dient. Die Erzählung folgt im Weiteren den männlichen Nachkommen und konzentriert sich zunächst auf Baschi Kitt (1560–1604), der aufgrund ausstehender Zinszahlungen 1602 aus der Stadt floh. Das Kapitel folgt seiner Flucht zunächst in die Markgrafschaft Mähren, dann nach Wien und schließlich nach Ostende im heutigen Belgien, wo er zusammen mit seinem Sohn Hans Jakob (gest. 1603) als Söldner unter Moritz von Oranien (1567–1625) diente und verstarb. Hinter den Anfängen von Baschi Kitts Reisen vermutet Boesch Kontakte zu mährischen Gemeinschaften von Täufern, was von den Briefen bestärkt würde, die dessen Söhne Sebastian (1584–1651) und Caspar (1587–1664) 1641 und 1645 von Isaak Hattavier (gest. 1657) erhielten. Darin setzte sich der Amsterdamer Kaufmann für die in Zürich verfolgten Täufer ein und bat um Unterstützung seines Anliegens vor dem Rat.

Der Fokus des zweiten Kapitels liegt auf Baschi Kitts Urenkel:innen Anna Margaretha (1652–1701) und Rudolf (1660–1746). Dabei werden Fragen zum Konsum kolonialer Güter und zur Vermittlung sowie Aneignung von Wissen über deren Produktion aus der Perspektive Anna Margaretha Kitts thematisiert. Das von ihr 1699 verfasste Kochbuch wird vor dem Hintergrund von Überlegungen zu Repräsentationsformen bürgerlicher Respektabilität und protestantischer Ethik gelesen und gleichsam als Ausgleich für eine kinderlos gebliebene Ehe, als auch als Hinweis auf „Geltungskonsum“ (S. 77) gedeutet. Die in den Rezepten aufgelisteten Gewürze und Zuckersorten stellt Boesch in Verbindung mit Rudolf Kitts Solddienst in Surinam und dem von ihm vermachten Atlas. Ausführungen in David Kitts Familienchronik von 1722 beriefen sich auf Berichte Rudolfs und zeichneten mithilfe exotisierender Fremdbilder die Andersartigkeit der Gesellschaft, des Klimas sowie der Tiere und Feldfrüchte Surinams nach. Boesch rekonstruiert anhand dieser Quelle Teile der Briefe, die Rudolf Kitt aus Surinam gesendet habe und liest aus diesen die emotionale Vermittlung des Erlebten als zentrales Anliegen heraus. Den Früchten, die zusammen mit den Briefen versendet worden seien, schreibt Boesch die Funktion zu, die beschriebene Fremdartigkeit körperlich erfahrbar zu machen. Die Verortung dieser Erfahrungen in einem Wissenssystem kolonialer Geografien steht wiederum im Zentrum der Vermutungen, die Boesch rund um die Verwendung von Hendrick Donckers (1626–1699) Zee-Atlas anstellt, den Rudolf Kitt 1688 der Stadtbibliothek Zürich schenkte.

Das umfangreichste Kapitel widmet sich Salomon Kitt (1744 bis ca. 1825), der als Kaufmann in der Karibik und Nordamerika tätig war. Nach dem Bankrott des gemeinsam mit seinem Onkel geführten Handelshauses 1778 verließ er Zürich zusammen mit seiner Ehefrau Sara Pauzié und den gemeinsamen Kindern. Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris tauchte Salomon Kitt 1779 auf der Karibikinsel Sint-Eustatius auf, wo er sich Dank seinen Beziehungen zu alt-eidgenössischen Textilfabrikanten und -händlern als Kaufmann positionieren konnte. Der Warenumschlag konzentrierte sich dabei stark auf den Austausch von in Europa verarbeiteten Textilien gegen Erzeugnisse der Plantagenwirtschaft. Nachdem britische Truppen Sint-Eustatius 1781 erobert und Waren und Güter beschlagnahmt hatten, ließ sich Salomon Kitt zunächst auf Saint-Croix und danach auf Saint-Thomas nieder, wo er seine kommerziellen Tätigkeiten wieder aufnahm. Da seine Partner auf Saint-Domingue zunehmend Mühe bekundeten, die Textilien absetzen zu können, schlugen sie Salomon Kitt vor, sein Schiff für den Transport von Maultieren oder aber den Sklavenhandel zu nutzen (S. 142). Im Nachwort argumentiert Boesch, dass sie aufgrund der Warenlisten späterer Schiffsladungen, die keine größeren Veränderungen zeigten, davon ausgeht, dass Salomon Kitt diesen Vorschlag ausgeschlagen habe (S. 252). Als die dänischen Behörden eingeschaltet wurden, um ausstehende Schulden einzutreiben, verließ Salomon Kitt die Karibik und tauchte 1784 in der Stadt Baltimore auf, wo er Land in der Nähe des heutigen Nashville kaufte, bevor einige seiner Güter 1785 versteigert wurden, um angehäufte Schulden zu begleichen. Das Kapitel endet mit einem erneuten Insolvenzverfahren, das 1803 auf Bestreben von Handelspartnern in der Schweiz eingeleitet wurde und sich bis zur letzten Zwangsversteigerung im Jahr 1810 hinzog.

Ein wiederum längeres Kapitel beleuchtet Armin Kitt (1851–1891), der 1868 Zürich in Richtung Kairo verließ. Die Deutsche Evangelische Gemeinschaft und die Société suisse de secours au Caire bildeten zentrale Institutionen seines gesellschaftlichen Lebens in Ägypten. Das Beispiel der Weigerung der Société, Zahlungen an die Witwe Adolf Haggenmachers zu leisten (S. 206), deutet jedoch auf eine Segregation innerhalb der sonst sehr homogen beschriebenen Gruppe ausgewanderter Europäer:innen hin. Das gemeinsam mit US-amerikanischen, britischen und deutschen Gemeinschaften erstellte Krankenhaus in Kairo stellte einen weiteren Referenzpunkt der Schweizer Community dar, wobei die Autorin betont, dass der konfessionelle Charakter eine entscheidende Rolle bei der Realisierung des Projekts spielte. Boeschs Ausführungen zeigen, wie sich auch das Ausgraben, Handeln, Enthüllen und Ausstellen archäologischer Fundstücke innerhalb dieser Auswander:innengemeinschaften abspielten. Der Umgang mit archäologischen Gütern erscheint somit einerseits als soziale Praktik der wohlhabenden europäischen Kaufleute, andererseits half er den Ausgewanderten auch, sich in das institutionalisierte Gedächtnis ihrer Herkunftsregionen einzuschreiben. So erstand auch Armin Kitt mehrere Ausgrabungsstücke und vermachte der Universität Zürich 1884 zwei Mumien.

Weltwärts zeigt faszinierende Perspektiven für populärwissenschaftliche Beiträge an der Schnittstelle zwischen Familien- und Kolonialgeschichte auf, verdeutlicht aber auch die Probleme, die sich dabei auftun können. So stellt die patrilineare Abstimmung zwar die Verbindung zwischen den geschilderten Biografien dar, wird aber nur selten auf ihre Funktionen hin analysiert, sodass ihre Rolle bei der Vermittlung von Gütern, Wissen und Kontakten an vielen Stellen unklar bleibt. Zum Beispiel werden Salomon Kitts Kontakte sehr genau aufgezeigt, wobei Blutsverwandtschaft zugunsten von Schwägerschaft und Bekanntschaften an Bedeutung eingebüßt zu haben scheint. Welche Netzwerke standen aber hinter Rudolf Kitts Dienst in Surinam oder David Kitts Bewegung nach Kairo und welche Rollen spielten dabei Vorstellungen von Verwandtschaft?

Von diesen Fragen abgesehen erschweren der Reportagestil und die Du-Anrede oft die Kontextualisierung des Ausgesagten und lassen die Grenzen zwischen Sachbuch und Fiktion verschwimmen. Beispielsweise stellt sich die Autorin im Kapitel „Für Liebhaber“ (S. 68–73) vor, wie die Geschwister Anna Margaretha und Rudolf zusammen den Atlas durchblättern. Dabei scheinen Lesarten aus der Analyse den zeitgenössischen Akteur:innen in den Mund gelegt zu werden: „Du [Anna Margaretha] studierst den Küstenverlauf, folgst den vielen Flüssen, die ins Landesinnere führen, suchst vergebens Symbole für Siedlungen. Wo leben die ‚Wilden‘?“ (S. 70) Gerade aber wenn nach den Praktiken, die mit einem Atlas einhergingen, den dabei involvierten Akteur:innen, deren Fragen und den dabei aktivierten Wissenssystemen gefragt wird, ist die klare Unterscheidung zwischen der Rekonstruktion der historischen Perspektive und dem argumentativen Gerüst, auf dem diese Ausführungen fußen, von zentraler Bedeutung. Auch scheint die analytische Distanz zu den Quellen passagenweise verloren zu gehen und Termini sowie Kategorien unkritisch übernommen zu werden. Zu Fotografien erklärt Boesch beispielsweise: „Aus Fotografien lässt sich der Habitus der Abgebildeten gut herauslesen: Ihr ganzer Lebensstil erschließt sich aus ihrem Auftreten, ihrer Kleidung und Körperhaltung, ebenso ihre Werte.“ (S. 218) Dies wird insbesondere problematisch, wenn Personen ausschließlich anhand von Fotografien verortet und zum Beispiel als „Nubier“ (S. 205) oder Mitglied einer „ethnisch gemischte[n] Gemeinschaft“ (S. 215) gelesen werden. Dabei können Fragen nach der Inszenierung, der Positionierung und Kleidung der abgebildeten Personen sowie nach der Beleuchtung, Blendeneinstellung und Belichtungszeit bei der Aufnahme – nicht nur in Bezug auf subalterne Akteur:innen – ein komplexes und durchaus auch widersprüchliches Bild zum Vorschein bringen, das über jenes von der Fotografie Gezeigte hinausgeht. Das Buch distanziert sich an anderen Stellen wiederum gänzlich von Quellenbefunden und imaginiert die Sinneswahrnehmungen und Erlebnisse der historischen Akteur:innen. Auch wenn diese Schilderungen oft explizit als fiktional deklariert werden, bringen sie dennoch Vorstellungsräume hervor, die eurozentristische sowie anachronistische Narrative aufgreifen und daher Gefahr laufen, stereotype Bilder und Erklärungsansätze zu reproduzieren. Ein Beispiel hierfür liefern Ausführungen zu Salomon Kitts Ankunft auf Sint-Eustatius: „Es ist also sehr wahrscheinlich, dass du [Salomon Kitt] von Schwarzen zwischen den Schonern und Schaluppen und Dreimastern nach Oranjestad gepaddelt wirst, und mit jedem Ruderschlag kommen die Düfte und Geräusche vom Ufer näher, das Bukett von Tabak, der am Ufer in Fässern lagert, und das Stimmengewirr von der Hauptstrasse.“ (S. 105) Danach habe sich Salomon Kitt „durch das babylonische Sprachgewirr und das Gedränge [einen Weg gebahnt], du [Salomon Kitt] siehst Juden mit Schläfenlocken und Bart und stößt auf Schotten in ihrem bunten Rock.“ (S. 108). Auf was sich diese Schilderungen stützten, bleibt unklar, auch da Boesch festhält: „Oranjestad war belebter und vitaler, als es zeitgenössische Abbildungen vermuten lassen.“ (S. 108) Das hier vermittelte Bild widerspricht damit nicht nur explizit einigen der herbeigezogenen Quellen, sondern scheint auch die Komplexität der historischen Gesellschaft auf Sint-Eustatius auf Klischees zu reduzieren.

Leider verpasst Weltwärts die Chance, einen engen Dialog zwischen dem vielfältigen Quellenkorpus und Arbeiten anderer Forschenden zu eröffnen und so den Schritt von einer Familiengeschichte mit interkontinentalen Bezügen zu einer globalen Mikrogeschichte zu tun. Nichtsdestotrotz legt Boesch mit ihrem Buch neues Material und Befunde zur Geschichte der kolonialen Verflechtungen von Zürcher Kaufleuten vor und macht die Thematik einem breiteren Publikum zugänglich.

Anmerkungen:
1 Dieser Trend kann auch im Bereich der schulischen Vermittlung ausgemacht werden, wo sich beispielsweise das laufende SNF-Projekt Globalgeschichtliche Perspektiven im Schweizer Geschichtsunterricht unter der Leitung von Philipp Marti (Fachhochschule Nordwestschweiz) mit Fragen der Einbettung globaler Verschränkungen in der Geschichtsdidaktik auseinandersetzt und darauf abzielt, neue Inhalte und Lehrmodule zu erarbeiten.
2 Als Student transkribierte Riccardo Rossi für Ina Boesch auf Auftragsbasis einige Quellen zu Salomon Kitt. Er wird deshalb in der Danksagung des vorliegenden Buchs erwähnt.

Redaktion
Veröffentlicht am
24.01.2022
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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